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Wander Projekt Teil 3: Ensis

Raven-Art

Nicht mehr ganz neu hier

Credits:
Photographe/Model: Mizzed Dev: http://goo.gl/a2iTPe
Story/Digital Art by Denis Fischer/Raven-Art
Lektorat by Dark Xperience

Zum Bild mit Detail-Ansicht und Geschichte:

Hintergrund-Geschichte
Teil 1: https://www.psd-tutorials.de/forum/threads/projekt-vates.167901/
Teil 2: https://www.psd-tutorials.de/forum/threads/wanderer-projekt-teil-2-clavis.167989/
Teil 3: Der Wanderer (Vorschau das komplette Kapitel gibt es auf meiner Homepage, weil es sonst zu viel Text wäre.)

Nassau, 1717

Es ist eine kühle und dunkle Nacht, in der die Möwen am Himmel kreisen und ihre Lieder krächzen. Trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit tummeln sich auf den nächtlichen Straßen noch allerlei finstere Gesellen. Die meisten unter ihnen sind wahrscheinlich Piraten, die monatelang auf See waren und heute das erste Mal wieder einen Fuß in ihre Heimatstadt setzen, um ausgelassen ihre Beute in den Bordellen und Spelunken der Stadt zu verpulvern. Lautstark ertönen ihre Lieder aus den mit Fackeln beleuchteten Tavernen. Überall wird gejohlt, getrunken und gelacht.

Nur eine Kleinigkeit will nicht so recht in das Bild passen.

Eine junge Frau läuft durch die schmutzigen Straßen und wirft dabei einige Männer und Frauen um. Sie wird von drei finster dreinblickenden Männer verfolgt, die wohl jeder auf den ersten Blick als Piraten identifizieren würde. Einer schreit ihr zu: “Bleib stehen, du Miststück!”, doch erntet er nur ein höhnisches Lachen von ihr. Eine weiße Krähe begleitet die junge Frau und krächzt: “Ensis, war es jetzt wirklich nötig ihnen ihre hart erarbeitete Beute wieder abzunehmen und dich damit erneut in Schwierigkeiten zu bringen?” Schon halb außer Atem antwortet die Diebin: “Ach Sollers, dass du auch wirklich jedes Mal deine Bedenken kund tun musst. Ich weiß, dass du klug bist und älter als so mancher Baum, aber manchmal muss man eben auch ein Risiko auf sich nehmen, um Erfolg zu haben. Und jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen. Irgendwie werden wir es auch dieses Mal schaffen.” Ensis holte einmal tief Luft und fügte dann noch hinzu: “Und schließlich brauchen wir auch mal wieder eine anständige Mahlzeit und dieser Raubzug schien mir der beste Ausweg zu sein.” Kopfschüttelnd gibt die Krähe nur ein leises, seufzendes Krächzen von sich. Ensis grinst.

Doch das Grinsen vergeht ihr schnell, als sie einen Blick nach hinten wirft und noch immer die fluchenden Piraten sieht, die ihnen bedrohlich näher kommen. In ihrer Panik ändert sie abrupt die Richtung und biegt, in der Hoffnung ihre Verfolger abschütteln zu können, in eine schmale Seitengasse ein. Zu ihrem Pech hat sich dort jedoch bereits ein weiterer Schläger positioniert, der ihr auflauert und versucht nach ihrem Hals zu schnappen. Geistesgegenwärtig beugt sie sich nach vorne, um unter seiner Attacke hindurch zu tauchen und so an ihm vorbei zu kommen. Ein winziger Moment der Schadenfreude zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, als der breit gebaute Kerl fluchend ins Leere fasst, doch so schnell wie es kam, vergeht es ihr auch wieder. Im letzten Augenblick bekommt der Pirat ihre blonden Haare zu fassen und reißt ihren Kopf brutal nach hinten. Ein lauter Schrei entweicht ihrer Kehle, doch der Schläger lacht nur und zieht sie an sich heran. “So, du kleines diebisches Miststück, jetzt werden wir viel Spaß…” Weiter kommt er nicht, denn Sollers mischt sich ein und hackt ihm mit seinem scharfen Schnabel das linke Auge aus. Vor Schmerz lässt er seine Gefangene wieder frei und drückt schreiend seine Hand auf die leere Augenhöhle. Ensis verpasst ihm einen harten Tritt zwischen die Beine. „Das war für meine Haare!“ Dann ergreift sie wieder die Flucht, bevor die anderen drei sie erreichen. Kopfschüttelnd gibt die weiße Krähe ihren Kommentar ab: „Das war jetzt aber wirklich nicht mehr nötig, Ensis. War er denn nicht schon genug gestraft mit dem Auge, das ich ihm genommen habe?“ Die Diebin quittiert seine Frage mit einem verächtlichen Grinsen.

Ein paar Seitenstraßen und etliche Haken später haben die drei Piraten ihre Verfolgung aufgegeben und Ensis betritt den Hafen der karibischen Stadt. Der frühe Morgen ist ihre liebste Tageszeit und sein Anblick verschlägt ihr jedes Mal aufs Neue den Atem. Die leuchtenden Strahlen der Morgensonne haben das Meer bereits wie ein rotes Tuch eingefärbt und sind nun dabei auch den schwebenden Inseln und Felsen, die wie Säulen aus dem Wasser steigen, ihre strahlende Farbe zu verpassen. Aber das, was sie am meisten am morgendlichen Hafen liebt, ist der Anblick der fliegenden Schiffe, die erst seit gut zwei Jahren die Weltmeere durchkreuzen.

Sie erinnert sich an die Zeitungen, die damals überall herum lagen und die reißerischen Schlagzeilen, in denen von einem äußerst gescheitem Wissenschaftler die Rede war, der herausgefunden hat, dass auch herausgebrochene Felsstücke in der Lage waren zu schweben. Das hatte dem König so sehr gefallen, dass er weitere Forschungen in Auftrag gegeben hatte und besagtem Wissenschaftler war es bereits kurze Zeit später gelungen, eine Maschine zu entwickeln, die die natürliche Schwebekraft der Steine verstärken konnte. Diese Maschinen bilden seither das Herzstück aller Flugschiffe. Sie hatte damals noch nicht verstanden, was die Leute damit meinten, aber sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie es war, als die Piraten von dieser Geschichte Wind bekommen hatten. Im Auftrag Henry Everys, dem König der Piraten, hatten sie und die Crew nämlich solch eine Maschine gestohlen.

Tränen laufen ihr übers Gesicht, als sie an ihren Vater denken muss. Ihrem Vater, dem Piratenkönig, der heimtückisch von Blackbeard ermordet wurde. Sollers bemerkt ihre Tränen und krächzt: „Was ist los?“ „Nichts.“ antwortet Ensis und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Nur Erinnerungen.“ Die weiße Krähe versteht und versucht sie etwas aufzumuntern: „Wir schaffen das schon.“

Sie tritt aus dem Schatten und lässt das wärmende Licht der Morgensonne ihr Gesicht liebkosen. Dann öffnet sie den kleinen, roten Beutel, um ihre Beute zu begutachten. Ein Pfiff des Erstaunens entweicht ihren zart geschwungenen Lippen, als sie in den Leinenbeutel schaut und unzählige Diamanten, Rubine und Goldmünzen darin erblickt. Sie will gerade hinein greifen und eines der Stücke näher unter die Lupe nehmen, als eine Hand auf ihrer Schulter sie aus ihren morgendlichen Tagträumen reißt. Erschrocken entgleitet ihr der Beutel und landet klimpernd auf dem Boden, wo sich sein Inhalt wild verteilt. „Haben die Piraten mich jetzt doch noch eingeholt?“ denkt sie sich, greift nach dem Dolch in ihrem Gürtel und dreht sich blitzschnell in die Richtung ihres vermeintlichen Angreifers um. Doch wie überrascht ist die Diebin, als sie nicht in das sonnengegerbte Gesicht eines Piraten blickt, sondern in die feinen Züge einer hübschen Frau mit blondem Haar. Jene hebt abwehrend ihre Hände und spricht: „Es tut mir leid. Es lag nicht in meiner Absicht, euch zu erschrecken oder mich zwischen euch und eurem Schatz zu stellen. Aber wärt ihr so freundlich, mir zu verraten, wo ich mich befinde und welches Jahr wir haben?“ Verwundert mustert Ensis die fremdartig gekleidete Frau, bevor sie antwortet: „Nun, ihr befindet euch in Nassau und wir schreiben das Jahr 1717, aber…“ Bevor die Diebin weiter sprechen kann, fällt ihr die Frau ins Wort: „Verdammt, ich habe das falsche Jahr erwischt.“ „Wie meinen?“ Die Verwunderung Ensis’ nimmt noch weiter zu, jedoch geht die seltsam Gekleidete nicht auf ihre Aussagen ein. Stattdessen fährt sie fort: „Naja, wie dem auch sei, ich spüre, dass du eine große Last mit dir herum trägst und ich könnte dich davon befreien.“ Ensis lacht spöttisch. „Aber das haben sie doch bereits getan.“, meint sie und deutet auf die wild am Boden liegenden Kostbarkeiten. Die Blonde sieht sich die Bescherung nur kurz an, schnippst dann mit den Fingern, während sie mit ihren glühenden Augen in das Gesicht der Diebin blickt und als hätte sie Leben in die Münzen und Steine gehaucht, beginnen diese zurück in den Beutel zu rollen.

Nachdem auch der letzte Edelstein seinen ursprünglichen Platz eingenommen hat, verschließt sich der Beutel wie von selbst und schwebt in die Hand der Zauberin. Völlig verdutzt verfolgt Ensis das seltsame Schauspiel, doch bevor sie etwas dazu sagen kann, vernimmt sie die krächzende Stimme ihres Gefährten, der von einem Dach aus das Geschehen beobachtet hatte und nun zu ihr zurück fliegt, um es sich auf ihrer Schulter gemütlich zu machen. „Ich will ja eure Plauderei nicht unterbrechen, aber ich würde dir raten deine Beute zu nehmen und dann zu verschwinden. Diese Alte ist mir nicht geheuer.“ Die Angesprochene lacht nur, während die weiße Krähe sie misstrauisch im Auge behält und drückt Ensis den gestohlenen Beutel zurück in die Hand. „Oh, ich bin keineswegs böse, aber trotzdem habe ich es versäumt mich vorzustellen.“ Die Blonde verbeugt sich galant und spricht weiter: „Mein Name ist Vates und ich bin eine Hellseherin, die immer auf der Suche nach Menschen ist, die meine Hilfe gebrauchen können.“ „Wie sieht denn die Hilfe aus?“ fragt die Diebin, bevor Sollers seinen nächsten sarkastischen Kommentar abgeben kann, doch statt einer Antwort erhält sie nur das Grinsen der Alten, die ein weiteres Mal mit den Fingern schnippt und plötzlich einen Stapel silberner Tarotkarten in den Händen hält. „Meine Karten werden dir deinen größten Herzenswunsch erfüllen.“ Ein glitzerndes Funkeln macht sich in den braunen Augen der Jugendlichen breit. „Ich habe einen Wunsch, den ich schon sehr lange hege und zwar…“ Die Zauberin legt ihr den Zeigefinger auf die Lippen und gebietet ihr Schweigen. „Du musst deinen Wunsch nicht aussprechen. Meine Karten wissen ihn bereits.“

„Ensis, ich weiß, dass es dich nervt, wenn ich so altklug vor mich hin spreche, aber mein Instinkt sagt mir, dass hier irgendwas faul ist und wir zusehen sollten, dass wir Land gewinnen.“ meldet Sollers seine Bedenken an. „Niemand tut etwas aus reinster Nächstenliebe oder verlangt keine Gegenleistung.“ Ein weiteres spitzes Lachen verlässt den Mund der grauen Hexe. „Oh, aber natürlich verlange ich eine Gegenleistung. Aber die ist so gering, dass ihr euch darüber keine unnötigen Gedanken machen müsst.“

Doch Ensis, die in Gedanken nur bei ihrem Vater und der Rache ist, nach der sie sich schon so lange sehnt und dem Zwiegespräch der Beiden nur mit einem halben Ohr folgt, murmelt grinsend: „Okay, ich möchte meinen Wunsch erfüllt haben.“ Kaum hat sie ihre Worte ausgesprochen, und noch ehe Sollers weitere Einwände dazwischen werfen kann, verlässt eine der silbernen Karten die Hand der Hexe und kommt auf sie zugeflogen. Auf dieser sind zwei gekreuzte Schwerter zu sehen und ihr Name steht in schwarz geschriebenen Lettern darunter. Sie will wieder das Wort an die Zauberin richten, doch jene hat sich scheinbar in Luft aufgelöst und befindet sich nicht mehr an der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Wieder ist es Sollers, der das Wort ergreift: „Wenn du mich fragst, dann war das ein großer Fehler, den du sicherlich früher oder später noch bereuen wirst.“ Sie will ihm gerade einen intelligenten Konter an den gefiederten Kopf werfen, als sich die Karte zuerst in ein strahlend weißes Licht und dann in eine goldene Halskrause verwandelt, dessen Mitte ein herzförmiger Smaragd ziert. „Was ist denn das?“ flüstert sie und betrachtet argwöhnisch den glänzenden Gegenstand in ihren Händen. Ohne weiter darüber nachzudenken, führt sie das Schmuckstück an ihren Hals und noch ehe Sollers eingreifen kann, legt sich die Krause auf magische Weise um den Selbigen. Für einen kleinen Moment schneidet es ihr die Luft zum Atmen ab, doch spürt sie nur Sekundenbruchteile später eine undefinierbare Macht in ihrem Blut zirkulieren.

Doch nichts geschieht.

Verwundert blickt sie ihren Gefährten an, doch der krächzt nur schulterzuckend. Sie berührt den grünen Edelstein und versucht die Halskrause wieder abzunehmen, doch auch das gelingt ihr nicht. „Hat mich die Hellseherin etwa herein gelegt?“ Sie überlegt wie die Karte ausgesehen hatte und murmelt: „Aber es waren doch zwei Schwerter auf dem Bild zu sehen?“ Als wäre das das Signal, erstrahlt der Smaragd und zwei Schwerter tauchen schwebend vor ihr auf. Als wären sie mit Leben erfüllt, tanzen die Klingen vor und um ihren Körper herum und auf dem Ricasso tragen beide Schwerter den selben Smaragd, der auch auf ihrer Halskrause zu sehen ist. Verdutzt und neugierig schaut sie dem Treiben eine Weile zu, bevor sie vorsichtig eine der beiden Klingen berührt. Ein sanftes Glimmen breitet sich, ausgehend von ihrer Berührung, auf der ganzen Klinge aus. „Na toll, ganz große Show. Jetzt hast du dein Leben für zwei schwebende Schwerter aufs Spiel gesetzt.“ kommentiert Sollers zynisch das Geschehen, doch Ensis ignoriert seinen bissigen Kommentar. Sie konzentriert sich nur auf die beiden tanzenden Stahlschwerter vor ihren Augen und denkt an Blackbeard zurück. Zurück zu jenem Augenblick, als sich dessen Klinge heimtückisch in das Fleisch ihres Vaters bohrte und sie hilflos alles mit ansehen musste.

Eine unsägliche Wut sammelt sich in ihren Gedanken und so schnell, dass die Piratentochter nicht einmal sehen kann was geschieht, rasen die beiden magischen Klingen davon und zerlegen die achtlos am Straßenrand liegenden Pulverfässer in tausend kleine Stücke. Erstaunt über diese Präzision und Geschwindigkeit lässt sie einen Pfiff der Bewunderung ertönen und auch Sollers, der sonst an allem etwas auszusetzen hat, kann ihr nur krächzend zustimmen.

Die Schwerter verschwinden so plötzlich im Nichts, wie sie erschienen sind und Ensis denkt darüber nach, wie der Trick wohl funktioniert. Mehr zu sich selbst, als zu ihrem Begleiter, spricht sie: „Vielleicht muss ich nur daran denken?“ Sie stellt sich zuerst eine Axt vor, dann ein Entermesser und zu guter Letzt ein weiteres Mal die beiden Smaragd verzierten Klingen und bei jedem Gedanken manifestieren sich die gewünschten Waffen sofort. Mit einem breitem Grinsen blickt sie ihren Gefährten an und meint fröhlich: „Wie es aussieht hat mir die Alte doch ein äußerst wertvolles Geschenk anvertraut.“ „Ich will es hoffen.“ antwortet der weiß Gefiederte missmutig, denn er ist weniger von dem Geschenk der Hexe angetan. „Du bist ein alter Miesepeter, Sollers.“ wirft die Diebin ihrem Freund an den Schnabel und lässt ein herzhaftes Lachen erklingen. „Zumindest bin ich nicht so unvorsichtig.“ erwidert er und schwingt sich beleidigt in die Lüfte.

Der Morgen ist nun endgültig angebrochen und flutet den Hafen mit seinem warmem Licht. Die Läden öffnen ihre Pforten und machen Platz für die alltäglichen Menschenmassen. Es ist ein friedliches Bild, dass sich der Piratentochter bietet. Die Frauen, die sich über den neusten Klatsch und Tratsch unterhalten, die Männer, die ihre Boote besteigen, um ihrer Arbeit als Fischer nachzugehen und die Jungen, die ausgelassen aus den Häusern stürmen, um gemeinsam zu spielen. „Am Tag verschwindet die hässliche Fratze dieser Stadt und zeigt eine Welt, wie sie schöner kaum sein könnte.“ schießt es Ensis durch den Kopf. Sie beobachtet eine Gruppe spielender Kinder und denkt an ihre eigene Kindheit zurück. An ihren Vater, der sie immer auf den Schoß nahm, wenn er von einer seiner langen Reisen heim gekehrt war. An die Abenteuer, von denen er ihr stets berichtete. Und an die Mutter, die bei ihrer Geburt verstarb und die sie deshalb nie kennenlernen durfte.

Ein kleines Spielzeugschiff landet direkt neben ihren Füßen und reißt sie sanft aus ihren Tagträumen. Noch bevor die ihr vertraute Stimme ihren Namen rufen kann, weiß sie bereits, wem dieses Spielzeug gehört, denn sie hat es selbst für ihn gebaut. „Joseph, altes Schlitzohr“, begrüßt sie den pausbäckigen und grinsenden Jungen übermütig und schnappt sich das kleine Modell: „Was machst du denn so früh schon hier draußen?“ „Ich wollte deine Erfindung ausprobieren.“ antwortet der Knabe vergnügt und fügt noch hinzu: „Ausnahmsweise funktioniert sie mal ohne Probleme…“ „Hey, sag doch so etwas nicht.“ gibt sie ihm gespielt beleidigt zurück: „Du weißt doch, dass so etwas Unglück bringt.“ Sie schnappt sich den etwa zehnjährigen Jungen, nimmt ihn in den Schwitzkasten und rubbelt mit der Faust durch sein aschblondes Haar. „Sei froh, dass es nicht schon wie die anderen Entwürfe explodiert ist.“ Joseph befreit sich lachend aus ihrem Griff und sein kindliches Lachen ist es, was die trüben Gedanken letztendlich aus ihrem Schädel vertreibt.

„Na sieh mal einer an“ meldet sich nun auch Sollers wieder zu Wort: „Der Junge scheint heute ja mal richtig gute Laune zu haben.“ Dann lässt sich die weiße Krähe erneut auf der Schulter seiner Freundin nieder. Ensis will ihn gerade fragen, ob er sich endlich wieder beruhigt hätte, aber überlegt es sich noch einmal anders. Es wäre nicht nett, jetzt noch Öl ins Feuer ihrer Freundschaft zu gießen. Sie weiß ja, dass der alte Krächzer sich nur Sorgen macht. Stattdessen ist es der junge Bursche, der das Wort ergreift: „Schade, dass ich deinen Freund nicht verstehen kann. Was hat er denn gesagt?“ Die Piratentochter lächelt ihn an. „Er freut sich, dass du auch mal gut gelaunt und nicht mehr so ein Trauerkloß bist, wie in den letzten Tagen.“ Mit einem Augenzwinkern gibt sie ihm sein Spielzeugschiff zurück.

Plötzlich ertönt aus der Ferne die gebieterische und kräftige Stimme einer Frau mittleren Alters. „Joseph! Komm sofort nach Hause. Dein Vater wird jeden Moment heimkehren!“ Schlagartig verschwindet die Fröhlichkeit aus dem Gesicht des blonden Jungen. „Ihr habt sie gehört. Ich muss gehen.“ Schnell verabschiedet er sich von dem ungleichen Paar und rennt nach Hause. „Ich hoffe für ihn, dass sein Vater heute nicht wieder zu betrunken ist.“ spricht die Diebin leise und Sollers knüpft an ihre Aussage an: „Apropos ‘nach Hause’… Wir sollten auch zusehen, dass wir wieder nach Hause kommen.“ Erschrocken blickt Ensis ihren gefiederten Gefährten an. „Verdammt, du hast Recht. Das gibt bestimmt wieder Ärger.“

Nach einer guten Viertelstunde haben die Piratentochter und ihr geflügelter Begleiter schnaufend das alte Backsteinhaus erreicht, in dem sie leben und arbeiten. Die weiße Farbe blättert bereits von der Fassade und auch das große runde Holzschild, auf dem » Antiquitäten aus der ganzen Welt « steht, ist schon hier und da verblasst. „Der gute, alte Edward wird sich bestimmt wieder furchtbar aufregen.“ spricht sie seufzend zu Sollers. „Aber ich kann es ihm ja nicht verübeln. Er macht sich ja auch nur Sorgen um mich.“ Sie fasst den Griff der Ladentür und versinkt für einen weiteren Moment in der Vergangenheit.

Ihre Gedanken kreisen zu der etwas jüngeren Version Edward Tailes. Damals, als er noch Steuermann auf dem Schiff und ein guter Freund ihres Vaters war. Wie auch er hilflos dessen Ermordung und die anschließende Machtübernahme durch die feige Hand Blackbeards miterleben musste. Und die Demütigung, die dieser Schuft in Planung hatte, in dem er sie, die Tochter des gefallenen Piratenkönigs, ehelichen wollte. Doch dazu sollte es glücklicherweise nicht kommen. Edward hatte sie mit Hilfe der verbliebenen Besatzung aus den Klauen dieses Bastards befreien können. In einer mondlosen Nacht, als Blackbeard mit dem Großteil seiner Crew auf Beutezug gewesen war, hatten sie seine Festung infiltriert, sämtliche Wachen ermordet und sie letztendlich befreit. Doch Blackbeard schwor ihnen blutige Rache und ließ verkünden, dass er sämtliche ehemalige Anhänger finden und öffentlich hinrichten werde.

Sie mussten fliehen, sich wie Feiglinge verstecken und sowohl ihre Namen, als auch ihr Aussehen verändern. Früher trug sie langes, strahlend blondes Haar, doch das war mittlerweile strohgelben Dreadlocks gewichen. Auch ließ sie ihr Gesicht und ihren Körper tätowieren. Eine Tatsache, über die besonders Edward nicht sonderlich glücklich gewesen zu sein schien, doch Ensis wollte unbedingt Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater auf der Haut tragen. Und auch der alte Seebär ließ einige Veränderungen über sich ergehen. Dort wo zum Beispiel früher lange schwarze Haare im salzigen Wind der See wehten, befand sich heutzutage nur noch eine glattrasierte Glatze. Und aus Solidaritätsgründen und um sein Aussehen so radikal wie nur irgendwie möglich zu verändern, ließ er auch er sein Gesicht mit diversen Tattoos verzieren.

Sie war gerade einmal fünfzehn Jahre alt, als Edward sie in seine Obhut nahm und sich, so gut er konnte, um sie kümmerte. Er eröffnete hier in Nassau sein Antiquitäten-Geschäft und verkauft seither allerlei Plunder aus den sieben Weltmeeren an den meistbietenden Liebhaber. Meisten schaffen sie es auch über die Runden zu kommen, aber man merkt ihm doch an, dass ihm das Ganze keinen Spaß macht. Man merkt, dass er wieder hinter dem Steuer eines Schiffes stehen will. Am liebsten hinter dem Steuer der ‘Siren’, dem Schiff, das einst ihrem Vater gehört hatte und das nun gezwungen ist unter der schwarzen Flagge Blackbeards die Meere unsicher zu machen.

„Ach ja, die ‘Siren’…“ seufzt die Piratentochter. Schon seit längerer Zeit plant sie die Rückeroberung dieses wundervollen und einzigartigen Schiffes. Nur der Gedanke, dass sich dieser Mistkerl von Blackbeard mit seiner schäbigen Seele auf ihrem Prunkstück von Schiff aufhielt, bringt das Blut in ihrem Körper zum Kochen.

Sie seufzt ein weiteres Mal und öffnet dann die Tür des Ladens, in dem sie als erstes von der grünen Meerjungfrau aus Jade begrüßt wird, die sie stets erschreckt. Sie wird sich wohl nie an den abscheulich grotesken Anblick gewöhnen können, den diese Statue allein mit ihrer Anwesenheit ausstrahlt. Im Inneren sieht das Haus nur unwesentlich besser aus als Außen. Die selben bleichen Kalkwände, der selbe grünliche Schimmel. Überall stehen Regale herum, die vor Statuen, Plunder, alten Schriftrollen und angeblichen Schatzkarten nur so überquellen. Ensis vernimmt ein Poltern und Fluchen aus dem hinteren Teil des Raumes und ruft: „Edward?“ Prompt kommt die Antwort des fluchenden Seebären zurück: „Enni, bist du das? Warte, ich komme gleich zu dir nach vorne.“

Minuten vergehen, in denen sich Edward polternd und fluchend über den angesammelten Ramsch hermacht. „Wahrscheinlich sucht er etwas und bei seiner Suche hat er scheinbar schon die ein oder andere Antiquität zu Kleinholz verarbeitet.“ denkt sich die Piratentochter, als ihr Ziehvater endlich aus seiner Ecke hervor tritt. Ein Schweißfilm überzieht seinen kahlen Schädel, und in Ensis Augen sieht er aus wie eine Katze, der man eben einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hätte. Angestrengt versucht sie sich ein Lachen zu verkneifen. „Na, du alter Grummelbär, hast du wieder geschafft etwas kaputt zu machen?“ begrüßt sie grinsend ihren Ziehvater. Edward verzieht das Gesicht zu einem unglücklichen Lächeln. „Ich kann doch nichts dafür, dass die verfluchten Statuen von heute nichts aushalten. Da war die ‘Siren’ noch aus einem ganz anderen Holz und wesentlich stabiler gewesen. „Da ist es wieder.“ denkt sich die junge Piratin: „Bei jeder Gelegenheit erwähnt er das Schiff.“

Er weiß nicht, dass er ihr damit jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt, aber dafür weiß sie, dass er nur sein altes Leben vermisst. Sie setzt ihr schönstes Lächeln auf und präsentiert ihrem Adoptivvater stolz ihre Beute. Doch Edward erwidert ihr Lächeln nicht und schüttelt stattdessen nur traurig mit dem Kopf. „Ach Kindchen, ich weiß ja, dass es im Moment nicht besonders gut läuft mit dem Laden, aber wir wollten doch auf das Stehlen verzichten, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Vergiss nicht, dass wir uns noch immer in Nassau befinden und uns Blackbeard noch immer auf den Fersen ist.“ Das Lächeln der Piratentochter verschwindet und sie antwortet trotzig: „Aber wir müssen auch mal wieder was anständiges essen.“ Edward seufzt und blickt ihr ernst ins Gesicht. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst und wahrscheinlich hast du auch recht, aber wir können diese Steine nicht verkaufen.“ Rot steigt die Wut in ihr junges Gesicht und sie schüttelt den Kopf, dass ihre Dreadlocks nur so fliegen. „Warum nicht?“ schreit sie ihren Ziehvater an: „Wir konnten bisher auch alles verkaufen!“ Der alte Seebär greift ihre Schultern und fährt unbeeindruckt mit seinen Erklärungen fort: „Enni, Kind, versteh doch. Es waren Blackbeards Männer, die du bestohlen hast und als wäre das nicht schon schlimm genug, hast du auf deiner Flucht noch einen weiteren von ihnen schwer verletzt.“ Die Piratentochter sieht ihren Adoptivvater mit ungläubigen Blicken an. „Aber wie…?“ „Einer der unsrigen hat euch auf eurer Flucht beobachtet und mir umgehend Bescheid gegeben.“ beantwortet Edward ihre Frage. „Ich habe bereits weitere Männer geschickt, um diese prekäre Lage, in die du uns in deinem jugendlichen Leichtsinn gebracht hast, in den Griff zu bekommen.

Kaum hat er seinen Satz beendet, klopft es an der Tür und eine heisere Stimme ruft: „Ich bin es, Jack, schnell macht die Tür auf, wir haben ein Problem.“ Umgehend öffnet der alte Seebär die Tür und gibt den Blick auf einen stämmigen Mann frei, der nach Luft ringend und stotternd seine Nachricht überbringt: „B… B… B… B… Blackbeard… Er ist… Er ist… Sie wissen… B… B… B… B… Bescheid… Auf… dem… Weg… ihr m… m… müsst… verschwi…“ Eine gebogene Klinge durchbricht den Brustkorb des Mannes und zeigt mit ihrer blutigen Spitze auf Edward, ehe Jack seinen Satz vollenden kann. Der rote Fleck breitet sich wie ein Lauffeuer auf dem weißen Hemd aus, bevor der arme Kerl mit einem letzten Schrei zusammenbricht und den Blick auf drei Männer mit langen schwarzen Bärten freigibt. „Na sieh mal einer an. Wie es scheint haben wir das richtige Rattennest entdeckt.“ meint der Vorderste grinsend, während er sein Schwert aus dem blutüberströmtem Leichnam zieht. „Und hey, Henry, schau mal, die Kleine kennen wir doch, oder?“ Ja, wenn das nicht die kleine Ensis ist. Oder sollte ich besser ‘Elisa’ sagen?“ antwortet ihm der Pirat zu seiner Rechten.

Erschrocken weichen sie und Edward zurück. Sollers will gerade auf die drei Bärtigen losgehen, doch die Diebin hält ihn zurück. „Los, kommt, wir müssen irgendwie von hier verschwinden.“ Doch auch ihr Ziehvater lässt sich nicht von ihrem energischen Auftreten beeindrucken. Stattdessen schüttelt er einfach ihre Hand von seiner Schulter. „Geh du schon mal vor. Ich werde sie aufhalten.“ Der alte Seebär greift sich eine der Statuen, hebt sie über den Kopf und rennt auf die drei Bärtigen zu. Diese geben jedoch nur ein verächtliches Schnauben von sich und zücken ihre Klingen. Doch bevor sie den Stahl in den Leib des Steuermannes rammen können, nimmt ihnen ein heller Lichtblitz die Sicht.

Als das Licht erlischt, ist es schon zu spät. Das Erste, was der vorderste der drei Spießgesellen realisiert, ist das Blut in seinem Gesicht und der kopflose Torso, der neben ihm stehend in sich zusammen bricht. Dann wirft er einen Blick auf Henry, der eben noch neben ihm stand und nun röchelnd in seinem eigenen Blut auf der Erde liegt und verzweifelt versucht die Blutfontäne, die aus seiner Kehle spritzt, zu stoppen. Dann blickt er wieder nach vorn und sieht in das tödliche Antlitz zweier Säbel, die blutüberströmt vor seinem Gesicht schweben. Vor Angst rutscht ihm sein Schwert aus der Hand und er hört die Stimme der Piratentochter: „Richte deinem Kapitän aus, dass ich kommen werde, um ihn zu holen. Und jetzt verschwinde!“ Ohne zu zögern nimmt der Schwarzbärtige die Beine in die Hand und verschwindet in dem regen Treiben der Menschenmassen.

Völlig perplex schaut Edward seine Adoptivtochter an. „Was in Gottes Namen war das eben?“ „Ich erkläre es dir später,“ antwortet sie ihm: „doch jetzt hilf mir erst einmal die beiden Leichen aus dem Blickfeld der Straße zu bekommen und dann sehen wir wohl besser zu, dass wir von hier verschwinden.“ Sie zerren die beiden leblosen Körper in das schlecht beleuchtete und von außen kaum einsehbares Geschäft und verschließen die Eingangstür. Ensis packt, so schnell sie kann, einige Vorräte zusammen, als ein heller Aufschrei vor der Ladentür sie zu einem raschen Aufbruch zwingt. Sie haben die Toten zu nah an der Tür liegen gelassen und nicht damit gerechnet, dass deren Blut durch den Türspalt hindurch auf die Straße fließen könnte, doch das ließ sich nun nicht mehr ungeschehen machen. Edward gibt einen kleinen Seufzer von sich. „Naja, immerhin bin ich jetzt diese Laden los.“ Und zu Ensis gewandt spricht er: „Wir sollten in den ‘Betrunkenen Piraten’ gehen. Ich habe veranlasst, dass sich die Crew dort im Notfall versammelt und das hier ist ja wohl ein Gott verdammter Notfall…“

Noch ein paar Worte:
Die Geschichte gehört zum Bild und wird später in laufenden Bildern fortgesetzt, es ist nur um ein Kapitel und thematisiert das obige Bild Ensis. Ich mache mittlerweile ganze Projekte aus Bildern mit Hintergrund-Geschichte und jeweilige Bilder dazu, das ist doppelt soviel Aufwand aber es macht ziemlichen Spaß. Ich hoffe die Geschichte hat euch gefallen und das Bild.
 

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